Zur autofreien Stadt in nur acht Jahren?
Yoga auf der Abbiegespur, Picknick auf der Straße, Konzerte und tobende Kinder. So haben die Münchner ihre Schwanthalerstraße, eine Hauptverkehrsader der Stadt, noch nie erlebt. Wo sich sonst Autos Stoßstange an Stoßstange stauen, Lieferfahrzeuge Gehsteige zuparken und sich Fußgänger wie Radfahrer im Slalom üben müssen, haben sich Anwohner und Besucher am 23. August 2020 städtischen Raum zurückerobert. „100 Meter Zukunft" titelte die Aktion des Kollektivs „Referat für Stadtverbesserung*“, zu dem sich Studierende der Architektur und Urbanistik an der TU München zusammengeschlossen haben.
Finanziell gefördert wurde die Aktion von der gemeinnützigen Sto-Stiftung. „Die Fragestellung, wie man Raum erlebt und wem öffentlicher Raum gehört, ist heute in der Architektur aktueller denn je. Mit ihren Ideen und ihrer Kreativität schaffen die Studierenden der TU München neue Freiräume, die wie kleine Inseln daherkommen. Sie zeigen, was möglich ist, was man verändern kann. Bei der Entwicklung dieser Ideen unterstützt sie die Sto-Stiftung gern“, erklärt Prof. Peter Cheret, Stiftungsrat Architektur.
Wettbewerb schafft Tatsachen
Michelle Hagenauer, Annika Hetzel, Magdalena Schmidkunz, Linus Schulte, Maximilian Steverding und Markus Westerholt kamen auf die Idee dazu im Rahmen einer Semesterarbeit. In der Auseinandersetzung mit dem Thema „Take back the Streets!“ im Wintersemester 2019/20 am Lehrstuhl für Urban Design der TU München, unter der Federführung von Prof. Dr. Benedikt Boucsein, wurde daraus das Kollektiv, das sich mit einer gerechteren Verteilung wertvoller Fläche im urbanen Raum beschäftigt und mit Aktionen darauf aufmerksam macht. „Im Sommer 2020 wollten wir unsere Theorie unbedingt testen und ins Praktische umsetzen“, erläutert Annika Hetzel (28). Mit viel Freiheit von den Lehrstühlen Urban Design und Architekturinformatik ausgestattet, konnten sie sich in einem Semesterprojekt dieser Umsetzung widmen.
Praktisch möglich gemacht hat das ein Wettbewerb unter dem Titel „Gestalte Deine Stadt“, den Green City e.V., eine Umweltorganisation in München, im Mai ausgelobt hatte. Unter den drei Gewinnern war auch das Konzept der Studierenden. „Green City hat uns anschließend dabei geholfen, mit dem Bezirksausschuss ins Gespräch zu kommen. Im August konnten wir unsere Aktion realisieren“, erklärt Studentin Annika Hetzel. Die Resonanz war sowohl bei den Anwohnern als auch medial überwiegend positiv.
„Viele würden die Straße am liebsten jeden Tag für den Autoverkehr sperren“, freut sich ihre Mitstreiterin Magdalena Schmidkunz (24), die mit so viel Zustimmung nicht gerechnet hatte. Sicherlich spiele die Corona-Pandemie dabei auch eine Rolle. „Menschen nehmen ihr Umfeld momentan anders, intensiver, wahr. Dazu zählt auch der Raum, der einem genommen wird, zum Beispiel in Form einer lauten, viel befahrenen Straße“, schlussfolgert sie.
Weitere Aktionen geplant
„Wir haben die Aktion als Event zusammen mit dem zuständigen Bezirksausschuss geplant und umgesetzt. Dort war das Konzept der Studierenden sehr gut angekommen“, erklärt dazu Katharina Frese von Green City e.V. „Als Verein, der sich dem Umweltaspekt der Stadt München verpflichtet sieht, ist es für uns wertvoll, solche ambitionierten Projekte, zu verwirklichen“, erläutert sie. Für Anwohner*innen und Besucher*innen sei es wichtig gewesen, zu sehen, was einhundert Meter autofreie Zone mitten in der Stadt ausmachen können. „Menschen erleben Events wie diese und sagen: ‘Geht doch! Und das auch noch in solch einer vielfrequentierten Straße.‘ Diese Erfahrungen bringen uns weiter“, ergänzt Frese.
Bei der einmaligen Aktion soll es nicht bleiben. An neuen Ideen wird gearbeitet. Studierende und Umweltorganisation planen dabei weiter zusammen. Katharina Frese verweist auf ein Pilotprojekt mit dem Namen „Westend-Kiez“ das derzeit noch in der Entwicklung steckt. „Ein Teil der Schwanthalerstraße verläuft durch den Stadtteil. Die Studierenden haben mit ihrer Studie sehr gute Arbeit geleistet und dabei auch interessante Ideen für die Entwicklung im Westend geliefert“, findet sie.
Wenn es nach dem Kollektiv der Studierenden geht, soll es bei dem Stadtviertel nicht bleiben. Sie denken groß und möchten München binnen acht Jahren vom Autoverkehr größtenteils befreien. „Unser Konzept macht es möglich“, erläutert Magdalena Schmidkunz mit einem Augenzwinkern. Für Green City ist das eine interessante Idee, die sich in der kurzen Zeit, aber nur schwer verwirklichen lässt. „Große Projekte brauchen viel Vorlauf und die Arbeit von vielen Akteuren. Projekte wie „100 Meter Zukunft“, „Pop-up-Radwege“ oder Münchens „Sommerstraßen“ sind dabei ein vielversprechender Anfang“, erklärt Frese.