Nachbericht | Tatiana Bilbao bei der November Reihe 2018 in Graz
Architektur gestaltet das Interface zwischen Mensch und Lebensraum. Sie greift auf subtile Weise in die Art und Weise in den Aufbau von sozialen Bindungen ein. Und manchmal erweitert sie einfach den Horizont. Tatiana Bilbao brachte am 19. November 2018 eindrucksvolle Projekte aus Mexiko mit und bereicherte die November Talks der Sto-Stiftung um viele Positionen, die zum Nachdenken anregen.
Kunst, Architektur und die Beziehung dazwischen sind für die meisten Menschen in Europa Alltag, mit dem sie seit der Schulzeit aufwachsen. In Städten wie Culiacán in Mexiko, gebeutelt von Armut und Drogenhandel, haben die Menschen andere Sorgen als kunstvolle Skulpturen. Tatiana Bilbao, Architektin mit einer Leidenschaft für Kollaboration, Interdisziplinarität und sozialem Bewusstsein, weiß jedoch, wie man das Leben der Menschen bereichert, indem man Kunst und Architektur in ihren Alltag integriert.
Der Jardín Botánico Culiacán beherbergt eine Sammlung von Skulpturen und Kunstwerken sowie wertvolle botanische Sammlungen, von Bambus bis hin zu Palmen. Die Menschen leben dort ihren Alltag, treffen sich, picknicken, machen Yoga-Sitzungen, lernen, entspannen, sporteln. „Mit einem Yoga-Pavillon und einer Laufbahn hätten wir den Ort vernichtet“, erzählt Tatiana Bilbao. Sie überzog das gesamte Areal stattdessen mit einem organischen, fraktalen Muster aus Pfaden, Brücken, Tümpeln, Sitzgelegenheiten und Freiräumen. Kleine Interventionen, die Kunst und Natur verbinden und zum aktiven Benutzen der Skulpturen einladen. Die größeren Gebäude wie die Bibliothek, die Cafeteria oder ein Auditorium sind in schlichtem Beton gehalten, der mittlerweile von Schlingpflanzen erobert wurde. Auch hier trifft Menschengemachtes auf Natur. „Der Garten ist zur bedeutendsten Kunstaustellung in der gesamten Gegend geworden“, erzählt Bilbao. „Ein Museum hätte nicht zur Kultur der Menschen gepasst. Sie hätten es nie angenommen.“ Eine starke soziale Botschaft birgt der Park ebenfalls: Der Beton, aus dem einige Sitzbänke bestehen, wurde aus demselben Wasser gemischt, mit dem man die Leichen von Drogenopfern wusch. Die Bänke wurden bald zu einem Symbol, das Bewusstsein schafft.
Ganz nah an den Bedürfnissen der Menschen bewegt sich auch ein weiteres Projekt, an dem Tatiana Bilbao beteiligt war: die Ausstattung einer Pilgerroute mit Infrastruktur. An die 2.000 Menschen machen sich Jahr für Jahr zu Ostern auf einen 150 Kilometer langen Fußmarsch im Gebiet um Guadalajara. Bis zu 10 Tage lang sind sie unterwegs und mussten bisher alles improvisieren, von Schlafgelegenheiten über Raststationen bis zu Hygieneeinrichtungen. Das wollte das Tourismusministerium ändern. „Die gesamte lokale Wirtschaft lebt von diesen wenigen Tagen, an denen die Pilgerreise stattfindet“, berichtet Bilbao. Das großangelegte Projekt sollte nicht nur Raststationen und Aussichtsplattformen bieten, sondern auch ästhetische und künstlerische Anforderungen erfüllen. „Wir wollten nicht alles selbst machen“, meint Tatiana Bilbao, „das wäre langweilig gewesen.“ So wurden eine ganze Reihe nationaler und internationaler Architekturgrößen eingeladen, jeweils ein Element des Projekts beizusteuern. Diversität war bei der Auswahl großgeschrieben. So war etwa Christoph Gantenbein, November-Talks-Vortragender im Jahr 2015 in Graz, dabei. Mit Ai Wei Wei, dessen Aussichtsplattform den Spitznamen „Chinesische Mauer“ bekam, lud man bewusst jemanden außerhalb des christlichen Kulturkreises ein. „Wir wollten verschiedene Perspektiven zum Zug kommen lassen“, betont Bilbao. Die einzelnen Teilprojekte fügen sich in die Landschaft ein und sind von weitem für die Pilger zu sehen – so auch eine offene Kapelle, die mit dem Kreuzsymbol ästhetisch spielt und nicht nur zur spirituellen Kontemplation, sondern auch einfach zum Verweilen einlädt.
Das große Paradigma der sozialen Interaktion brachte Tatiana Bilbao auch mit nach Frankreich, wo sie in Lyon drei Wohngebäude gestaltete – zwei davon als sozialer Wohnungsbau, einer mit Wohnungen für den privaten Kauf. Die Bedingungen unterschieden sich zwar radikal von denen in Mexiko: „Wir mussten strikte Regeln einhalten und das Design mathematisch und minutiös planen.“ Aber dennoch blieb Bilbao ihren eigenen Regeln treu: Die in versetzten und verschachtelten Ebenen angeordneten Terrassen erschaffen einen offenen Raum, der Interaktion zulässt und die Diversität der Bewohner zum Ausdruck bringt. „Wir wollten eine neue Art Urbanismus schaffen“, so Bilbao, „Menschen sind nicht alle gleich.“ Ihr urbanes Lebensgefühl wächst aus Platzmangel in die Höhe, ihr Wohnbau erobert die dritte Dimension in die Vertikale, bleibt aber dennoch immer offen und luftig. Ihr wichtigstes Credo: „Ideen muss man zulassen.“
Programm der November Reihe in Graz
Interview mit Tatiana Bilbao
Das Video-Interview finden Sie auf dem YouTube-Kanal der Sto-Stiftung.