Nachbericht | Jürg Conzett bei der November Reihe 2018 in Graz
Die „Brückenfunktion der Architektur“ – zwischen Natur, Umwelt, Mensch und gebautem Lebensraum – wird gerne zitiert. Mit dem Schweizer Jürg Conzett nehmen die November Talks 2018 dieses Konzept allerdings wörtlich. Die am 5. November 2018 in der Aula der TU Graz vorgestellten Projekte verschmelzen Tragwerksbau, Architektur und Ingenieurskunst zu Werken, die das Brückenhafte im Gebäude und das Gebäudehafte in der Brücke vor Augen führen.
Ein Element zieht sich konsequent durch den Vortrag von Jürg Conzett aus Chur in der Schweiz: handschriftliche Aufzeichnungen. Dabei ist man oft nicht sicher, was man vor sich hat: Ist das eine architektonische Skizze? Eine zeichnerische Studie oder doch eine mathematische Beweisführung? Bei Conzett, der gelernter Bauingenieur ist, ist es alles gleichzeitig. Seine Faszination galt schon immer dem Tragwerk. Ob ein klassisches Bankgebäude aus dem Jahr 1968 in New York oder das Amtsgebäude der Region Trentino-Südtirol in Trient mit seinen spektalulären Auskragungen, Conzett muss den Dingen auf den Grund gehen: „Mit detektivischer Akribie habe ich mir überlegt, wie diese Gebäude funktionieren.“
An diesem Punkt des Vortrags war klar, dass sich seine Arbeit interdisziplinär zwischen Architektur und Tragwerksplanung bewegt. Obwohl sogar die Webseite des Studios strikt zwischen Brücken- und Hochbau trennt, scheinen sich die beiden Formen in seinen Werken immer wieder zu begegnen. „Ich möchte Disziplinen vereinen“, sagt Conzett. „Nicht nur ästhetisch. Ich möchte gemeinsam mit anderen an einer stimmigen Sache arbeiten.“
Den Murauer Mursteg hat Jürg Conzett nicht nur wegen des offensichtlichen Steiermarkbezugs als Beispiel gewählt. Die Brücke steht exemplarisch für seine Arbeit. Unter fünf Teilnehmern gewinnt sein Büro 1993 den Wettbewerb, zwei Jahre später verbindet der hölzerne Bau den Bahnhof und die Stadt. 47 Meter muss die Brücke überspannen, dazu kommt ein Höhenunterschied von 10 Metern. Außerdem muss sie dem Fußgänger- und Radverkehr Platz bieten. Anstatt die Brücke zu verkleiden, geht Conzett den umgekehrten Weg: Das Tragwerk bildet mittig das Rückgrat der Brücke, mit einem verborgenen Stahlkabel verspannt. Wie durch einen Tunnel bewegen sich die Menschen an der offenen Seite entlang. Seitlich angesetzte Schubscheiben, wie die Gurte verdübelt, sorgen für Dynamik – auch im statischen Sinn, was Conzett zunächst Kopfzerbrechen bereitete. „Wozu bin ich Ingenieur?“, fragte er sich und rechnete die Verspannungen und Verschiebungen durch. Die mathematischen Problemlösungen sieht man dem fertigen Bau nicht an. Sehr natürlich schmiegt sich Fichten- und Lärchenholz in die Landschaft ein. Die Treppen muten an wie der Balkon eines gemütlichen Einfamilienhauses, und in der Tat verweilen die Menschen gerne auf „ihrer“ Brücke und genießen den Blick auf die Stadt. Stahl und Holz zu kombinieren ist eigentlich unüblich, meint Conzett. Aber: „Wenn eine Sache etwas leistet, kann man die verrücktesten Sachen kombinieren.“
„Wenn das Tragwerk außen ist und man es sehen kann, ist das für mich etwas Schönes“, gibt Ingenieur Jürg Conzett zu. Bei einer Brücke ist es aber meistens so, dass sich das Interessante abseits der Augen der Benutzer abspielt – nämlich unter ihren Füßen. Kein Wunder also, dass der Brückenbauer aus Leidenschaft für das Besucherzentrum in der beeindruckenden Viamala-Schlucht vorschlug, gleich zwei Brücken zu bauen. Während man über die eine geht, darf die andere vor der Naturkulisse wirken. „Schließlich sollen die Leute mitbekommen, was da los ist“, meint Conzett und bezieht sich dabei – natürlich – auf das Tragwerk.
Programm der November Reihe in Graz
Interview mit Jürg Conzett
Das Video-Interview finden Sie auf dem YouTube-Kanal der Sto-Stiftung.