Stil entsteht aus der Interaktion zwischen Menschen und Gebäuden | Farshid Moussavi
Farshid Moussavi spricht über das Thema Stil als gemeinsames architektonisches Konzept und erklärt, inwiefern der Stil für Architekten wichtig ist. Der Begriff „Stil“ wurde bisher in der Regel zur Klassifizierung von Architekturausprägungen verwendet, die bestimmte gemeinsame Merkmale aufweisen. Diese Definition des Stilbegriffs erscheint angesichts der neuen Möglichkeiten, ein Gebäude zu erleben, überholt. Für ein Bauwerk ergibt sich die Fähigkeit zu agieren aus dem realen Raum: In diesem Kontext ist es möglich, Stil als die Interaktionen und Beziehungen zwischen Menschen und Gebäuden zu definieren.
Gebäude können als „Verbund von Elementen“ betrachtet werden, der sich im Laufe der Zeit verändert: Das Gebäude wirkt wie ein Komplex und nicht wie ein einheitliches Ganzes. Die Komplexität dieser Elemente steht mit Menschen auf unterschiedliche Weise in Beziehung, und ihre Kombination in einem Bauwerk erzeugt bei den Nutzern bestimmte Wirkungen (als Gefühl von Offenheit, Helligkeit, Durchlässigkeit, Flexibilität usw.). In diesem Sinne kann der Stil als wirkende Kraft angesehen werden, die sich als eine Anhäufung von Effekten manifestiert.
Da die Menschen sich an eine bestimmte Art und Weise, in der die Elemente eines Gebäudes kombiniert werden, gewöhnen können, kommt den Architekten die Aufgabe zu, mit den Konventionen für die Zusammenstellung gebauter Formen zu brechen, die Menschen von ihren Gewohnheiten zu befreien und zu bewirken, dass sich die Nutzer auf neue Beziehungen zu Gebäuden einlassen.
Der Yokohama International Ferry Terminal zeichnet sich beispielsweise durch eine Abkehr von den konventionellen Verkehrswegen aus, wodurch ein Gefühl der Überraschung und Unberechenbarkeit entsteht und aktive Begegnungen mit den Menschen herbeigeführt werden. Der Apartmentblock in Montpellier, ein im Bau befindliches elfstöckiges Hochhaus, nutzt den Stil als Möglichkeit, das Konzept des normalerweise klaustrophobisch anmutenden Wohnturms zu verändern. Durch die Kombination von Elementen kann das Gebäude neue Wirkungen bei seinen Bewohnern erzeugen. Die Gestaltung der Balkone regt dazu an, sich sowohl drinnen als auch draußen aufzuhalten, und dadurch, dass die einzelnen Stockwerke versetzt voneinander angeordnet sind, befinden sich die Balkone nicht direkt übereinander, so dass das Gefühl von Privatsphäre verstärkt wird.
Das Hauptanliegen des Museum of Contemporary Art in Cleveland liegt im Eindruck von Flexibilität und darin, das übliche Design zeitgenössischer Kunstgalerien zu überdenken, das von weißen Kästen geprägt ist. Die Hauptelemente des Gebäudes sind das Treppenhaus und die Gebäudehülle. Die Außenseite des Museums ist mit einer Wetterschale aus schwarz verspiegelten Edelstahlplatten verkleidet, die einen Ölmalereieffekt entstehen lässt, der sich mit den Wetterbedingungen verändert. Das Gebäude erzeugt neue Reflexionen, steht mit unerwarteten Effekten mit dem Kontext in Beziehung und befindet sich in einem Dialog mit seiner Umgebung. Die beiden Treppenhäuser sind miteinander kombiniert und ermöglichen dadurch unterschiedliche Routen vom Erdgeschoss zu den oberen Stockwerken. Der Blick von den Treppen, die als sozialer Raum angelegt sind, auf die Galerien sorgt für ein außergewöhnliches Kunsterlebnis. Sie gestatten es, die Räume des Museums zu überblicken, selbst wenn diese nicht zugänglich sind.
Der Victoria Beckham Flagship Store in London stößt die Regeln für das normale Shopping‐Erlebnis um: Das Schaufenster ähnelt einem Gemälde, und der Eingang sieht eher wie eine Kunstgalerie aus als ein Geschäft, was die feste Absicht zum Ausdruck bringt, Vorhersehbarkeit zu vermeiden. Im Inneren ermöglichen es einziehbare Regale und Ketten als Display‐System, den Raum für Veranstaltungen und Events zu nutzen, und die verspiegelte Deckenverkleidung verleiht dem Erdgeschoss ein Gefühl von räumlicher Tiefe. Die Theken mit einer Oberfläche aus Hochglanzedelstahl, die über dem Boden zu schweben scheinen, garantieren ein absolut einzigartiges Raumerlebnis.
130 Fenchurch Street in London ist ein neues Bürogebäude mit 17 Stockwerken. Hier begann der Design‐Prozess von außen: Die normale Bürogebäudehülle ist die Vorhangfassade, die durch ihren Spiegeleffekt ein Gefühl der Anonymität und des Verschwindens erzeugt. Moussavi wählte für die Gebäudehülle gekrümmte Glaspaneele, um eine Vielzahl von Wahrnehmungen von außen und im Inneren ein Raumerlebnis. Es wurde schwarzes gesintertes Glas verwendet, um die dunkleren Fensterpfosten auf der Fassade nicht wie ein Gitter aussehen zu lassen. Die Wellenform sorgt für Aufmerksamkeit und unterstreicht die Präsenz des Gebäudes als Antwort auf die üblichen verschwindenden Glasgebäude.
Farshid Moussavi ist Professor in Practice an der Harvard University Graduate School of Design und war Mitgründerin von Foreign Office Architects (FOA). Sie ist die Verfasserin der Bücher „The Function of Ornament“ (2006), „The Function of Form“ (2009) und „The Function of Style“ (2014), die auf ihrer Forschungs‐ und Lehrtätigkeit in Harvard beruhen.
2011 gründete sie Farshid Moussavi Architecture (FMA) in London. Das internationale Büro verbindet über das Forschungsinstitut FunctionLab von FMA architektonische Praxis mit kritischer Forschung.
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