Nachbericht | Venedig: Bernard Khoury - Im Spannungsfeld zwischen Vergänglichkeit und Dauerhaftigkeit
Die Vortragsreihe „November Talks“ der Sto-Stiftung konnte nun auch in Venedig wieder als Präsenzveranstaltung aufgenommen werden. Am 2. November 2021 sprach der libanesische Architekt Bernard Khoury an der Universität Iuav Venedig über „Evolving Scars" und Projekte zur Wiederherstellung von durch den Krieg zerstörten Gebäuden.
„Ich bin ein Architekt der Gegenwart, ich kann nur über die Gegenwart nachdenken", sagte Bernard Khoury. Seine Gegenwart ist geprägt durch Krieg. 1968 geboren, wuchs Khoury während des Bürgerkriegs im Libanon (1975-1990) in Beirut auf. Von zahlreichen inneren und äußeren Narben gezeichnet, siedelte er in die Vereinigten Staaten um, wo er 1991 sein Architekturstudium an der School of Design in Rhode Island abschloss. Zwei Jahre später graduierte er als „Master of Architectural Studies“ an der Harvard Universität. Mit einigen ausgewählten Projektbeispielen belebte Khoury in Venedig sein Referat unter der Überschrift „Evolving scars“ und zeichnete verschiedene Etappen seiner Arbeit und seines Lebens nach.
Es waren experimentelle, nicht realisierte Projekte zur Wiederherstellung von durch den Krieg zerstörten Gebäuden, die den Ausgangspunkt seiner beruflichen Laufbahn bildeten. Krisen und Krieg – Khourys Schaffen bewegt sich stets im Spannungsfeld zwischen Vergänglichkeit und Dauerhaftigkeit. Projekte auf Dauer anzulegen, ist an einem Kriegsschauplatz wie Beirut nur schwer umsetzbar – vielmehr gar nicht aufrechtzuerhalten. So bestimmt der temporäre Aspekt für Gebäude einen vordersten Platz für Khoury. „Viele Fragen, Unsicherheiten und Ungewissheiten“, umreißt Khoury die fortwährende Situation, in der er lebt und arbeitet. Veränderungen und Deformationen in Beirut sind die Realität, gezeichnet und gekennzeichnet durch die tragische Kriegssituation. Ein eindrucksvolles Projektbeispiel ist der Nachtclub B018 aus dem Jahr 1998 sowie das Restaurant Central von 2001: Beide Bauten wurden als vorübergehende, temporäre Projekte konzipiert und zugleich derart gestaltet, dass sie möglichen Bombenanschlägen standhalten können. Der Nachtclub ist eine unterirdische Konstruktion und erinnert an einen Bunker. Er befindet sich in dem komplexen Viertel Karantina – Ort eines schrecklichen Massakers an palästinensischen Muslimen im Jahr 1976. Das Restaurant Central mit einer Terrasse unter einem Dach, das geöffnet werden kann, wurde in einem während des Bürgerkriegs zerbombten Gebäude errichtet. Dessen stark vernarbte Fassaden konnte nur durch eine mit Maschendraht umwickelte Konsolidierungskonstruktion erhalten werden. Während das Central im Laufe der Zeit von Flüchtlingen bewohnt wurde, die es an ihre Wohnbedürfnisse angepasst haben, überdauert der für eine Lebensdauer von fünf Jahren konzipierte Nachtclub B018 nun schon 23 Jahre.
Sowohl in den unterirdischen Gebäuden als auch in den Hochbauten erinnern Khourys Projekte an Militärarchitektur und Kriegsmaschinen. Dieses charakteristische Merkmal seiner Arbeit findet sich auch in den visionären, nicht realisierten Projekten wieder, die er im Rahmen der Konferenz in Venedig zeigte. Ein Beispiel ist das Derailing Beirut 2010 – eine rote, die gesamte Stadt durchquerende Eisenbahnschiene, die sich als großes Panoramakarussell um bedeutende Punkte der Stadt windet. An ihr ist eine transparente Kapsel befestigt, eine Art Rakete, die eine Person aufnehmen kann. Das Projekt: eine Art Infrastruktur, konzipiert als Maschine für eine außergewöhnliche Darstellung Beiruts mit schwindelerregendem und zugleich phantastischem Ausblick.
Khourys architektonische Arbeit nimmt Bezug auf eine vom Krieg geprägte Welt. Er bedient sich eines militärischen Repertoires – manchmal ganz konkret, zuweilen nur als Phantasiegebilde. Zugleich ist dieses Repertoire auch erforderlich, um Gebäude und Menschen vor dem Krieg zu schützen. In den Bunkern, den Raketen bis hin zu den Wehrtürmen, die im Entwurf 1072, der Skyline (2014), zu erkennen sind, oder dem Schiff (2017) im Entwurf 1282 dringt Khourys Kernthema durch – der Krieg. Nach der Explosion im Hafen von Beirut im Jahr 2020 wurde das Hochhaus – der Skyline-Entwurf 1072 – beschädigt und verformt: „Es ist, als ob mein Liebling sich vor dem Tod gerettet, aber seine Haut verloren hat", sagte er hierzu. Auch sein Architekturbüro war von der Zerstörung betroffen, er selbst wurde verletzt. Aktuell arbeitet er daran, dieses Skyline-Projekt durch die Erforschung einer neuen Haut, einer Art Rüstung, zu flicken. Und er hat beschlossen, seine Fähigkeiten in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen, um andere durch die Explosion beschädigte Gebäude zu reparieren und wiederaufzubauen.
Khoury ist als aktiver Gegner der libanesischen Diaspora ein Kriegsarchitekt im wahrsten Sinne des Wortes – ein Architekt des Krieges mit Wunden und Narben. Er setzt sich für den Wiederaufbau von Beirut ein und kämpft jeden Tag hartnäckig dafür, in seinem Land bleiben zu können. „Seine Stimme und seine Werke“, sagte Professorin Fernanda De Maio während der Vortragsmoderation, „zeugen von den Verletzungen, die die Menschen im Nahen Osten erleiden. Dies ist auch ein wichtiges Zeugnis für den Westen, denn es ist eine Art Blick in unsere Zukunft und zeigt uns einen Weg, wie wir Notsituationen gegenübertreten können.“
Das hochaufgelöste Bildmaterial finden Sie hier zum Download.
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Ein Kurz-Interview mit Bernard Khoury finden Sie auf unserem YouTube-Kanal.