Nachbericht | Stuttgart - Stefan Marbach: Tradition trifft auf Paradigmenwechsel
Erstmals nach der pandemiebedingten Vortragspause trafen sich Architekturexperten und Bauinteressierte wieder zu den November Talks am 3. November 2021 in Stuttgart. Thema der Auftaktveranstaltung dieser von der Sto-Stiftung unterstützten Serie war eine kritische Auseinandersetzung damit, wie der Bausektor den aktuellen klimapolitischen Herausforderungen begegnen kann. Für lokalspezifische Baukonzepte plädierte der Referent des Abends Stefan Marbach, Senior Partner bei Herzog & de Meuron.
„Es ist jetzt geboten, einen neuen Ansatz beim Bauen zu finden.“ Stefan Marbach, Senior Partner bei Herzog & de Meuron, brachte das Thema gleich zu Beginn seines Vortrags bei den November Talks auf den Punkt. „Wir haben eine Tradition, mit Beton zu bauen – wir waren immer an der ästhetischen Vielfalt des Materials interessiert“, konstatierte er. Doch müsse jetzt die Frage, wie es im Bausektor weitergehen könne, intensiv diskutiert werden – vor allem mit Blick auf die jüngsten Flutkatastrophen. Denn: Der Bausektor sei Teil des Problems, machte Marbach unmissverständlich deutlich.
Sein Referat, das die diesjährige Stuttgarter November-Reihe eröffnete, schloss sich an das Wintersemester-Motto ‚Bauen ohne Beton‘ der Fakultät Architektur und Stadtplanung an. Marbachs Ausführungen umschrieben den hohen Anspruch architektonischer Ziele und die erforderliche Vereinbarkeit diverser Aspekte – die doch oft unvereinbar scheinen. Mit einem Zitat des Schweizer Architekten Jaques Herzog erklärte Marbach die Komplexität der Aufgabe: „Die wahre Herausforderung besteht darin, eine nachhaltige und einzigartige Schönheit zu schaffen. Wir sehen es als unsere Aufgabe an, Teil eines Paradigmenwechsels zu sein, um eine neue Art von Ästhetik, nachhaltiger Schönheit und architektonischer Qualität zu schaffen, die für jedes einzelne Projekt spezifisch ist und sich in den lokalen urbanen, geografischen und kulturellen Kontext im Gleichgewicht mit der natürlichen Umgebung einfügt.“
Hohe CO2-Emissionen aus dem Bauen mit Beton
Die CO2-Emissionen nehmen seit der Industrialisierung kontinuierlich zu, ebenso der Bevölkerungs- und Wohlstandszuwachs, der immer mehr Fläche pro Kopf einfordert – mit dem Ergebnis, dass zunehmend mehr gebaut werde, gab Marbach zu bedenken. Allein 40 Prozent aller CO2-Emissionen seien dem Bausektor zuzurechnen – acht Prozent allein für das Bauen mit Beton. Nun komme es darauf an, führte Marbach weiter aus, lokalspezifisch zu bauen und regionale Gegebenheiten und Klimabedingungen in die Gestaltung und Planung von Architektur einzubeziehen. „Aber dafür fehlt heute vielfach noch das Verständnis“, bedauerte er. Er stellte einige Projektbeispiele vor – etwa den Erweiterungsbau der Tate Modern in London, das Naturbad in Riehen und das Rehabilitationszentrum REHAB in Basel. Für Herzog & de Meuron gehe es bei allen Projekten darum, die Schärfung der Sinneswahrnehmung und die Schaffung einer neuen spezifischen Form der Stadt voranzutreiben. „Es ist entscheidend, dass wir ganzheitlich denken und die Leute an einen Tisch bringen, die es für entsprechende Konzepte braucht“, plädierte Stefan Marbach. Er verwies auf das aktuelle Projekt ‚Nordspitze Basel‘, das als Teil des Stadtentwicklungsprojekts auf dem ehemaligen Zollfreilager Dreispitz entsteht. Hier wird ein ausformuliertes, nutzungsdurchmischtes Quartier mit hoher Dichte an Wohn- und Büroräumen, Kommerz- und Bildungsflächen sowie zahlreichen öffentlich zugänglichen Grün- und Freizeitanlagen umgesetzt. „Verdichtung bedeutet, dass man auch mehr Freiraum schafft. Hier spielt die Frage eine Rolle: Wie schaffen wir bewusst ein angenehmes Klima in der Stadt, das nicht zur Überhitzung neigt?“
Der Referent verwies auf weitere Projekte – etwa das Stone House (1988) im Tavole, die Kelter- und Lagerstätte der Dominus Winery (1998) im Napa Valley und das Ricola-Kräuterzentrum (2014) in Laufen. Sie alle verzichten durch den Einsatz lokaler Werkstoffe gänzlich auf Beton. Marbach betonte bei diesen Projekten die eindrucksvolle Verbindung zu den jeweiligen Standortorten und die zeitgemäße Bauökonomie. Offenbar ist noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten, wenn es darum geht, reale Architektur zu schaffen, die einen Beitrag zu den ausgegebenen Klimazielen leisten kann. „Es gibt viele Bauherren, die sagen‚ sie wollten das nachhaltigste Gebäude“, berichtet Marbach aus dem Praxisalltag. „Wenn dann allerdings klar wird, was das kostest, wird zurückgerudert.“
Architektur und Bauen – ein zentrales Thema für alle Menschen zu jeder Zeit, weltweit und in jeder Gesellschaft. Aktuell stoßen Tradition und bislang festgefügte Muster auf neue Herausforderungen und neue Randbedingungen. Obendrein erfordert die Planung gegenwärtiger Architekturprojekte eine enorme Weitsicht, weil manche Vorhaben bis zu ihrer Fertigstellung durchaus ein ganzes Jahrzehnt in Anspruch nehmen und sich die Anforderungen in dieser Zeit wesentlich verändern können. Als finales Projektbeispiel stellte Stefan Marbach den Bürobau Hortus vor: In diesem Gebäude soll die Erstellungsenergie in einer Generation ‚zurückgezahlt‘ sein können. Hortus ist ein Atriumbau aus Massivholz und Lehm mit einem biodivers ausgelegten Innenhof. Die Holzkonstruktion ist ausschließlich gesteckt. In einer temporären Feldfabrik sollen Deckenelemente mit gestampften Lehmfüllungen entstehen, die im Anschluss ‚just in time‘ in die Konstruktion eingebracht werden. Die Außenhülle ist vollumfassend mit Solarmodulen konzipiert – mit verglasten und geschlossen Flächen im Verhältnis 50:50.
Spannende und zukunftsweisende Aspekte prägten den Auftakt der November Talks. Kyra Bullert, wissenschaftliche Mitarbeiterin des IRGE – Institut für Raumkonzeptionen und Grundlagen des Entwerfens, führte durch die Veranstaltung und verwies auf die nachfolgenden Vorträge am Gründungsort Stuttgart am 10., 17. und 24. November 2021 sowie auf weitere Talks in Paris, Prag, Venedig, Wien und London.
Das hochaufgelöste Bildmaterial finden Sie hier zum Download.
Die Nachberichte, auch der anderen Standorte, stellen wir Ihnen nach und nach ebenfalls zur Verfügung. Sie finden diese Daten dann unter folgendem Link.
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