Nachbericht | Stuttgart - Florian Nagler: Einfach bauen – und trotzdem architektonisch anspruchsvoll
Einfach bauen – das ist das Kernthema von Florian Nagler, Professor für Entwerfen und Konstruieren an der Technischen Universität München und Inhaber des Büros Florian Nagler Architekten. Er referierte am 10. November 2021 als Gastredner des zweiten Abends der Stuttgarter November Talks im Rahmen der diesjährigen Veranstaltungsreihe unter der Überschrift „Bauen ohne Beton“.
Florian Nagler steht für vereinfachtes Bauen auf ganzer Linie – für eine zurückgenommene Komplexität und eine verringerte technische Ausstattung. Einfach, schön und nützlich soll ein Bauwerk sein. Gebäude, deren Kompliziertheit und Sensibilität zunächst die Planer, dann die bauausführenden Firmen und schließlich die Bauherren in der alltäglichen Nutzung überfordern, sind nicht seine Sache. „Hochtechnisierte Gebäude berücksichtigen oft das Nutzverhalten nicht“, gab Nagler zu bedenken. Das Royal Institute for British Architecture habe 2016 in einer Studie festgestellt, dass zum Beispiel 95 Prozent aller Schulgebäude in Europa nicht so funktionieren wie angenommen. Zwischen Planung und Realbetrieb klaffe ein Performance Gap. „Weil der Gebäudenutzer sich oft nicht so verhält wie das errechnete Planungsmodell“, erläutert Nagler. „Je komplexer das System, je höher der technische Anspruch – desto größer ist diese Lücke.“
Florian Nagler plädiert dafür, sich beim Bauen auf das Wesentliche zu beschränken. Nicht zuletzt dank seiner Herkunft, „ein Dorf zwischen München und Bad Tölz, in dem ich großgeworden bin“, erzählte Nagler. „Die Region und auch das Bauen dort haben mich geprägt.“ Nagler ist selbst gelernter Zimmermann und hat während seines Studiums kleine Scheunen gebaut. „Die erste entstand aus altem, jahrzehntelang eingelagertem Tennenholz“, erinnerte sich der Architekt an dieses praktische Beispiel dafür, dass es zirkuläres, Ressourcen sparendes Bauen schon immer gegeben hat. Zu seinen ersten Bauprojekten, die sich mit der Reduzierung auf das Wesentliche befassten, gehörte ein Auftrag für den befreundeten Künstler Peter Lang – der Bau eines mobilen Reiseateliers.
Forschungshäuser in Bad Aibling: einfach, robust und verblüffend
Schließlich habe der Bau des Gymnasiums in Diedorf 2015 den Ausschlag dafür gegeben, umzudenken: „Bauen muss einfacher und mit weniger gehen“. Denn das – in Holzbauweise zwar gestalterisch wunderbare gelungene – Plus-Energie-Gebäude sei hinsichtlich der Lüftungs- und Heiztechnik derart hochkomplex, dass die praktische Betreibung als Schulhaus nur mit hohem Aufwand möglich sei.
So befasst sich Naglers Forschungsprojekt „Einfach bauen“, das er an der TU München initiiert hat, mit einer Kultur der Vereinfachung, die einen Richtungswechsel beim Bauen unterstützen soll. „Was ist eigentlich ein idealer Wohnraum? Wie ist er am besten konfiguriert? Was sind geeignete Raumhöhen und Fenstergrößen? Was ist die beste Verglasung?“ Auf der Basis einer angenommenen Raumgröße von 18 Quadratmetern und den Materialvarianten Holz, stahlfreier Dämmbeton sowie Ziegelmauerwerk hat das Projekt insgesamt 2.605 Einzelraumsimulationen betrachtet und sie im Hinblick auf Energieverbrauch-, Temperatur- und Lichtwerte verglichen. „Am besten funktioniert der drei Meter breite, sechs Meter tiefe und 3,30 Meter hohe Raum mit einem Fenster in angemessener Größe. Das sind die Werte des typischen Altbaus, den wir kennen“, stellte Nagler fest. Es fand sich ein Bauherr, das Immobilienunternehmen B&O in Bad Aibling, mit dem Florian Nagler drei „Forschungshäuser“ bauen konnte – ein Holzhaus, ein Betonhaus und ein ziegelgemauertes Haus mit baugleichen Grundrissen. Diese Mehrfamilienhäuser wurden so schlicht wie nur möglich konzipiert und konstruiert, ohne vielschichtige Wandsysteme oder Fremdelemente. Alle Installationen sind kompakt angeordnet, die Haustechnik ist reduziert ausgestattet. Sämtliche verwendeten Materialien wurden sortenrein verbaut und sind später optimal recycelbar. Die architektonischen, gestalterischen Aspekte kamen nicht zu kurz: Rundbogenfenster beim Beton- und beim ziegelgemauerten Haus in verschiedenen Größen sowie horizontale Stürze beim Holzhaus hauchen den Fassaden Abwechslung und Lebendigkeit ein. „Es sind bescheidene, zurückhaltende und robust wirkende hohe Räume, die auch den Besucher verblüffen“, sagt Nagler. Nun folgt derzeit das Messen, Auswerten, Validieren und Rückkoppeln verschiedener Daten und Parameter – Komfort, Fensterkontakte, Verbräuche, Feuchtigkeitswerte, Temperaturen und Bauteilmessungen. 2022 sollen die Forschungsergebnisse vorliegen.
Zeitgemäßes Bauen praktisch umgesetzt
Die bislang gewonnenen Erkenntnisse sind in Nagelers jüngste Projekte eingeflossen – etwa ein Wohnhaus in Mitterfischen (2019) und den geplanten Bürobau für Florian Nagler Architekten. „Nichts wird verkleidet. Alles, was zu sehen ist, ist die tragende Konstruktion.“ Ein weiteres und besonders eindrucksvolles Beispiel dafür, ohne Beton zu bauen, ist das Wiederaufbauprojekt von St. Martha in Nürnberg (2018): Die bei Sanierungsarbeiten 2014 abgebrannte Kirche aus dem Jahr 1363 erhielt durch Florian Nagler Architekten unter anderem eine neue Dachkonstruktion, die vollständig aus Holz ohne Leim – nur mit Schauben und Dübeln – gearbeitet ist.
In einem „Manifest“ hat Florian Nagler seine Forderungen für ein zeitgemäßes Bauen zusammengefasst: Reduzierung des Flächenverbrauchs bei allen Baumaßnahmen in der Stadt und auf dem Land; Nutzung des Gebäudebestands als Raum- und Materialressource; Verwendung von Materialien, die so wenig wie möglich graue Energie verbrauchen, einfach zu recyclen sind oder wieder in den Kreislauf der Natur zurückgeführt werden können; Bau von Gebäuden mit möglichst wenig Energieverbrauch im Betrieb; Entwicklung von langlebigen, robusten Gebäuden, die einfach zu nutzen sind.
Kyra Bullert, wissenschaftliche Mitarbeiterin des IRGE – Institut für Raumkonzeptionen und Grundlagen des Entwerfens, führte durch die Veranstaltung und verwies auf die nachfolgenden Vorträge am Gründungsort Stuttgart am 17. und 24. November 2021 sowie auf weitere Talks in Paris, Prag, Venedig, Wien und London. Den nächsten Vortrag in Stuttgart wird Roger Boltshauser von Boltshauser Architekten aus Zürich gestalten.
Das hochaufgelöste Bildmaterial finden Sie hier zum Download.
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