Nachbericht | Marcelo Ferraz bei der November Reihe 2017 in Paris
Als Sohn Brasiliens, einem Land mit radikalen Kulturen, stellte Marcelo Ferraz bereits in seinen ersten Zeichnungen einen engen Bezug zur Geschichte her. Inspiriert von den Reiseberichten und Stichen von Theodor de Bry, die von kannibalischen Völkern erzählen, vom Avantgardismus eines Diego Rivera oder der kühnen Modernität von Oscar Niemeyer entwickelte Marcelo einen Stil mit einem charakteristischen Merkmal: dem ausgewogenen Gleichgewicht zwischen Bruch und Kontinuität mit der Vergangenheit.
Konstruierte Architektur existiert nicht ohne Kontext, den man als eine organische Summe von Kultur, Wissen, Orten und Ressourcen definieren könnte, die den ureigenen Reichtum eines Landes darstellen, den man nutzen kann, wenn man sich die Mühe macht, ihn zu sehen, zu hören und zu verstehen. Es gibt eine typisch brasilianische Vorstellung von einem Erbe, die man mit den Worten von Lucio Costa umschreiben könnte: „Eine harmonische Koexistenz von Epochen, Materialien, Kulturen, Traditionen…“.
In dieser Hinsicht war die Begegnung Marcelos mit Lina Bo Bardi im Jahr 1977 ein einschneidendes Ereignis. Diese begann damals mit dem Bau des SESC Pompeia, den sie 1982 fertig stellte. Ein Zusammenspiel zwischen der unerbittlichen Genauigkeit der Volumen und der Unregelmäßigkeit der Öffnungen, der Strenge der Raubetonbrücken und der Markierung der Holzschalungen, ein neuer Brutalismus am Kreuzungspunkt von Tradition und Rationalität, von Handarbeit und Präzision.
Marcelo Ferraz versteht Architektur als eine Arbeit mit Eindrücken und rationalen Elementen. Alle Architekten können einen rationalen Plan zeichnen, doch wie viele sind in der Lage, ihm eine Vorstellung von der unbeschreiblichen Detailarbeit, vom Aufwand der Materialauswahl oder der Art der Umsetzung einzuhauchen? Wie vielen gelingt es, diesen subtilen Dialog zwischen dem historischen Wesen eines Ortes und den heutigen Bedürfnissen herzustellen?
Die Demut vor der Geschichte verleiht Ferraz‘ Architektur den pittoresken Charakter der einheimischen Bauwerke, sein Avantgardismus und Modernismus die konstruktive Rationalität, und die Mittel der Umsetzung eine subtile Unvollkommenheit, die sich als Hommage an das Handwerk und die Handarbeit versteht.
Brasilien ist ein riesiges, instabiles Land. Marcelo Ferraz und seine Agentur übernahmen Aufträge in allen Teilen des Landes, was bei jedem Projekt einen neuen Ansatz erforderte.
Kulturelle Herausforderungen
Im Bread Museum erlebt der Besucher ein Zusammenspiel von Materialien. Bei dem Projekt ging es um die Renovierung einer von einer italienischen Familie errichteten Mühle, die in Brasilien einen Holzhandel aufbauen wollte. Marcelo Ferraz verarbeitet hier Holz, Glas, Stoff, Beton und Stein, die ausnahmslos vor Ort hergestellt wurden. Die Architektur passt sich dem traditionellen lokalen Kontext an.
Dialog zwischen Alt und Neu
Ein Beispiel für die Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist auch das Pampa Museum. Von dem ehemaligen Militärgebäude wurde so viel wie möglich erhalten und der neue Teil angebaut. Mit Holzlatten verschalter Schüttbeton kommt hier mit den massiven Steinen des Waffenarsenals in Kontakt und erzeugt so starke visuelle Eindrücke durch den Kontrast zwischen Materialien verschiedener Beschaffenheit.
Nutzung von überliefertem Know-how
Eine weitere Hommage an lokale Traditionen ist der Sitz des Instituto Socioambiental (ISA), bei dem der Architekt auf die Mitwirkung der örtlichen Bevölkerung angewiesen war, um das aus Bambus, Lianen und Zweigen geflochtene Dach des Gebäudes herzustellen. Dasselbe gilt für sein bekanntestes Projekt, das Kulturzentrum Praça Das Artes, dessen Gemeinschaftssäle er von Handwerkern mit Stoffverkleidungen und Kronleuchtern ausstatten ließ. Ferraz knüpft hier an etwas Universelles an: den immanenten Reichtum alter, tief verwurzelter Traditionen im Dienst eines Mischprojekts. Eine Begegnung früherer Kulturen mit einem modernen Bewusstsein.
Während die Idee von der Tabula rasa für die moderne, zeitgenössische Architektur sehr verlockend ist, haben sich Marcelo Ferraz und seine Agentur für das Gegenteil entschieden: Ein Bauvorhaben ist kein unbedeutender Akt, es muss mit Intelligenz und Bescheidenheit umgesetzt werden. Die Architektur der Agentur Brasil Arquitetura Studio ist visionär, denn sie ist sich nicht nur der aktuellen Herausforderungen und der Entwicklung ihres Landes bewusst, sondern verfügt auch über ein scharfsinniges Gedächtnis, das die Vergangenheit respektiert. Brasilien ist ein Land im Aufbruch auf halbem Weg zwischen seinen tausendjährigen Wurzeln und seiner vollständigen Industrialisierung: Also wählt es das Beste von beidem aus und akzeptiert die Vorzüge und Fehler beider Seiten. Hierin besteht vielleicht das Geheimnis der visuellen, symbolischen Kraft der Architektur von Marcelo Ferraz. Zeitlosigkeit zum Ausdruck zu bringen, erfordert vielleicht eine andere Vision der Zeit, die nicht mehr als eine Folge von Ereignissen, sondern als Netzwerk verstanden wird, wie Lina Bo Bardi sagte: „Linear time is a Western invention; time is not linear, it is a marvellous tangle where at any moment points can be selected and solutions invented without beginning or end.“
Interview mit Marcelo Ferraz
Das Video finden Sie auf dem YouTube-Kanal der Stiftung.