Reallabor Hagenmarkt: „Muss wirklich neu gebaut werden?“
Das „Reallabor Hagenmarkt“ der TU Braunschweig gehört in diesem Jahr zu den geförderten DesignBuild-Projekten der Sto-Stiftung. Drei Architektur-Institute der TU haben sich dabei vernetzt und transformieren für die nächste Zeit den Hagenmarkt in Braunschweig. Federführend bei der Aktion ist das Institut für Architekturbezogene Kunst unter der Leitung von Prof. Folke Köbberling. Zwei ihrer künstlerisch-wissenschaftlichen Mitarbeiter, Alexa Kreißl und Benjamin Menzel, waren maßgeblich am Vorhaben beteiligt und berichten im Interview über die Herausforderungen dieses Projekts, das Besondere an DesignBuild und die Zukunft der Architektur.
Wann kam zum ersten Mal die Idee auf, den Hagenmarkt umzugestalten?
Alexa Kreißl: Zu Beginn kam der Regionalverband Großraum Braunschweig auf uns zu mit der Anfrage, ob wir Pläne für ein Tiny House auf dem Hagenmarkt entwickeln könnten. Dieses war lediglich als Zwischenlösung gedacht, bis die Arbeiten zur geplanten Umgestaltung des Hagenmarktes starten. Die Studierenden sollten dann als Aufgabe einen Kompaktentwurf für ein solches Tiny House bzw. einen Pavillon erstellen. Dieser Kompaktentwurf wurde in Kooperation mit dem IBEA entwickelt und betreut. Vorgabe war die Größe eines Baucontainers. Der Pavillon sollte dann mit recyceltem Material gebaut werden.
Wie waren die Schritte bis zur Eröffnung?
Alexa Kreißl: Die ersten Anträge zur Bebauung haben wir im Oktober 2020 gestellt. Von da an war es ein ziemliches Hin und Her mit den zuständigen Ämtern. Von jedem gab es eigene Vorgaben, die erfüllt werden mussten. Die Kooperationen mit dem Institut für Bauklimatik und Energie der Architektur sowie dem Institut für Theorie und Geschichte der Architektur und Stadt begannen erst später.
Benjamin Menzel: Der Baubeginn auf dem Platz startete erst am 31. Mai. Durch die Pandemie hat sich vieles verzögert und selbst als die Stadtverwaltung schon grünes Licht gegeben hat, mussten wir noch auf die Freigabe durch den Krisenstab der TU Braunschweig warten. Das Warten hatte am Ende jedoch etwas Förderliches. Denn so konnte man in Ruhe auf dem Platz ankommen und Vorbereitungen treffen. Es musste nicht gleich losgehen.
Was ist das Besondere am Reallabor Hagenmarkt?
Benjamin Menzel: Wir haben das Projekt nah am Bürger gestaltet. Der Platz ist ein Sammelbecken für die unterschiedlichsten Menschen. Das war er zwar auch vorher schon in gewisser Weise, aber seitdem wir den Platz bespielen, hat sich die Mischung nochmal verändert. Außerdem bringen wir mit den Projekten auf dem Hagenmarkt auch die Uni in die Stadt und damit die Lehre in die Öffentlichkeit. Es entstehen Kooperationen zwischen Instituten, zwischen Akteuren. Das Projekt ist ein 1:1 Modellversuch.
Alexa Kreißl: Durch die reversible Struktur unserer Materialien kann der Platz immer wieder verändert werden. Nicht umsonst nennen wir das „Reallabor Hagenmarkt“ auch einen „Möglichkeitsraum“. Er schafft Möglichkeiten zur Gestaltung – auch zur Veränderung. Unser Projekt ist einfach ein großes Experimentierfeld und gibt Raum zum Lernen. Das Reallabor veranschaulicht Themen wie Kreislaufwirtschaft, Suffizienz und Resilienz.
Wie waren die Reaktionen der BürgerInnen auf das Projekt?
Alexa Kreißl: Unabhängig von unserem Projekt, gab es eine lebhafte Diskussion darüber, was mit dem Hagenmarkt in Zukunft passiert. Das äußert sich konkret in der Frage: „Wem gehört der Platz?“. Die AnwohnerInnen waren also sehr interessiert daran, was wir hier genau machen. Es wurden viele Fragen gestellt und Hilfe bei den Arbeiten angeboten. Natürlich gab es auch kritische Stimmen. Aber die Studierenden sollten auf die Menschen zugehen und ihnen erklären, was hier passiert. Das baut anfängliche Ressentiments schnell ab. Insgesamt sind die Reaktionen der BürgerInnen positiv.
Benjamin Menzel: Die Menschen reagieren auf die Strukturen und merken, es ist ein „neuer Ort“ entstanden. Der Platz hat sich durch das Realllabor von einem Transitraum auch in einen Aufenthaltsraum verwandelt. Das wird von den meisten als etwas Positives wahrgenommen. Einige ältere AnwohnerInnen haben zum Beispiel Patenschaften für die Jungpflanzen übernommen, die wir auf dem Markt aufgestellt haben.
Welche Wünsche habt ihr für die Zukunft des Reallabors?
Alexa Kreißl: Anfangs war geplant, dass der Pavillon bis Ende Juli stehen bleibt. Jetzt wurde gerade entschieden, dass wir sogar bis zum Juni 2022 die Strukturen auf dem Hagenmarkt erhalten dürfen. Das ist großartig. Das IBEA wird im Winter an der Struktur des Pavillons weiterarbeiten und die verschiedenen eingesetzten Materialien messen. Ich wünsche mir, dass es vielleicht darüber hinaus geht und wir einige Jahre den Hagenmarkt nutzen können. Dafür müssten aber Stadt und BürgerInnen einverstanden sein. Zusätzlich wäre es wichtig, dass eine neue Stelle für die Verwaltung des Hagenmarkts bei der Stadt geschaffen wird.
Benjamin Menzel: Ich wünsche mir, dass der Hagenmarkt von den BürgerInnen angenommen und genutzt wird. Es ist von Vorteil, wenn sich verschiedene Initiativen in Zukunft einbringen und ebenso zur Gestaltung des Platzes beitragen, um eine Verstetigung zu gewährleisten.
Was genau macht das „Reallabor Hagenmarkt“ zu einem DesignBuild-Projekt und wie äußert sich das?
Alexa Kreißl: DesignBuild bedeutet für uns zuallererst, dass wir nachhaltig und bewusst bauen. Genau das geschieht auf dem Hagenmarkt. Wir nutzen fast ausschließlich recyceltes Material und bauen reversibel. Das heißt, die Elemente können nach dem Abbau wiederverwendet werden. Wir nutzen zudem Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen. Viele Materialien wurden in den vorherigen Seminaren bereits getestet, so gab es Veranstaltungen zur Ressource Matratze und Rohwolle. Dieses Semester ist die Ressource Erdaushub ein Seminarthema. Die eingebauten Türen wurden schon viermal an anderer Stelle genutzt. Diese Erfahrung nutzen wir und bringen sie an anderer Stelle zusammen.
Benjamin Menzel: Wir haben bereits mehrere DesignBuild-Projekte umgesetzt. Das Besondere an jedem dieser Projekte ist, vor Ort zu sein. Dadurch entwickelt man einen anderen, engeren Bezug zu dem konzipierten Objekt. Zusätzlich bedeutet DesignBuild auch immer „Work in Progress“. Das Objekt entwickelt sich mit dem Bau und kann auch immer wieder angepasst werden.
Inwiefern ist DesignBuild wichtig für Studierende?
Alexa Kreißl: Die Arbeit der Studierenden geht vom Körper aus. Es wird selbst Hand angelegt und damit erfahren angehende ArchitektInnen, welche körperliche Arbeit hinter einem solchen Bauvorhaben steckt. Das führt zu einem anderen Blickwinkel auf ein Projekt, als nur das Konzept zu erstellen und mit dem tatsächlichen Bau sonst nichts zu tun hat. Dadurch lassen sich auch eventuelle Schwierigkeiten viel besser einschätzen. Die Beziehung von Kopf und Hand bleibt hängen und Eigeninitiative wird belohnt. Was den Studierenden wirklich hilft, ist dass sie etwas selbst realisieren können. Man kann Dinge einfach machen und ausprobieren. Sie lernen, sich auf Umwege einzulassen, wenn etwas mal nicht funktioniert. Alle Ideen werden von den Studierenden selbst geprüft und müssen der Realität standhalten. Durch die Arbeit am Objekt und mit den Materialien werden sie sich auch der Formate bewusst.
Wie wichtig sind Förderungen für eure Projekte?
Benjamin Menzel: Finanzielle Mittel, wie die der Sto-Stiftung, sind enorm wichtig. Ohne diese sind solche Projekte gar nicht zu stemmen. Es geht nicht nur ums Material, das bezahlt werden muss. Oft wird vergessen, dass die Beteiligten ja auch bezahlt werden möchten. Engagement ist ebenso wichtig. Menschen, die sich für eine Sache einsetzen. Die Öffentlichkeitsarbeit darf auch nicht vernachlässigt werden. Denn was bringt so ein Projekt, wenn man nicht darüber informiert und ein Bewusstsein bei den Menschen schafft.
Alexa Kreißl: Wichtig sind auch gewisse Freiheiten, die dir gelassen werden. Freiräume, Anträge vielleicht etwas vage zu formulieren, weil noch gar nicht klar ist, in welche Richtung es geht. Das macht auch Mut Förderungen für weitere Vorhaben zu beantragen.
Wie sollte sich die Architektur verändern in Zukunft?
Alexa Kreißl: Die Architektur öffnet sich schon neuen Möglichkeiten gegenüber. Aber es gibt definitiv noch viel Luft nach oben. Es sollte zum Beispiel mehr danach gefragt werden, ob wirklich neu gebaut werden muss. Welche Rohstoffe haben wir bereits in der Stadt und müssen nicht extra produziert werden – Stichwort „Urban Mining“. Außerdem sollte zukünftig die Nachnutzung von Materialien im Vordergrund stehen. Was passiert mit den Baustoffen oder generell Produkten, wenn sie ihre Funktion erfüllt haben. Ein Beispiel ist das Dach unseres Pavillons, das wir mit alten Matratzen gedämmt haben. Es sollte generell keinen Abfall geben. Und schließlich müssen auch Transportwege stärker beachtet werden.
Benjamin Menzel: Es muss mehr auf die Verhältnisse beim Bau eingegangen werden. Dafür ist eine Präsenz wichtig. Es ist ein Unterschied, ob mir irgendein Schild erklärt, was hier passiert oder ob ich direkt mit einem Menschen sprechen kann. Austausch ist der entscheidende Punkt. Gebrauchte Rohstoffe sollten weniger Restriktionen unterliegen und die Transformation von Dingen als Arbeit gewürdigt werden.