Interdisziplinären Austausch stärken
Wie wirkt Architektur auf Menschen? Das ist eine essenzielle Frage der Architekturpsychologie. Darauf antworten kann Diplom-Psychologin Gudrun Rauwolf. Als Doktorandin der Technischen Universität (TU) Berlin, Institut für Architektur, Fakultät VI Planen, Bauen und Umwelt, forscht sie dazu seit September 2019. Zuvor war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Psychologie & Arbeitswissenschaft der TU Berlin tätig.
Unterstützt wird Rauwolf bei ihrer Promotion von der gemeinnützigen Sto-Stiftung, die die in Europa einmalige Promotionsstelle zusammen mit der TU Berlin ausgeschrieben hat und in den kommenden drei Jahren mit insgesamt rund 150.000 Euro fördert.
Prof. Dr.-Ing. Jörg H. Gleiter, Leiter des Fachgebiets der Architekturtheorie an der TU Berlin, betreut die Doktorandin. „Bis heute ist die Architekturpsychologie das schwarze Loch der Architektur“, erklärt er und fügt an: „Es fehlen die theoretischen Grundlagen, wie das Material, die Oberflächen, die Figuren und Räume auf den verschiedenen Ebenen zusammenspielen und was sie im Menschen bewirken.“ Damit das nicht so bleibt, plant die TU Berlin das Fach mit ergänzenden Forschungsprojekten auszubauen und dauerhaft in Forschung und Lehre zu verankern.
Im Interview spricht Diplom-Psychologin Gudrun Rauwolf zum Gegenstand ihrer Forschung.
Frau Rauwolf, Architekturpsychologie beschäftigt sich mit dem Wissen über die komplexe Wirkungsweise von Architektur, Stadt und Umwelt auf das psychische und physische Wohlbefinden des Menschen. Was heißt das genau?
Unser ganzes Leben verbringen wir in gebauter Umwelt. Auch die „natürliche“ Umwelt ist geprägt von gestalterischen Eingriffen durch Menschen. Unser Erleben und Verhalten werden dadurch entscheidend bestimmt – und wir selbst sind dabei sowohl aktiv als auch rezipierend. Genau dies untersucht Architekturpsychologie. Unsere gebaute Umwelt hat nicht nur Auswirkungen auf unser psychisches und physisches Wohlbefinden, sondern beeinflusst auch direkt Lern- und Arbeitsleistungen und soziales Miteinander. So können Raumstrukturen Interaktion fördern, aber auch Privatheit ermöglichen.
Haben Sie ein konkretes Beispiel, welches Ihre Forschung auch einem Laien verständlich macht?
Eindrücklich ist die Studie von Roger Ulrich aus dem Jahr 1984. Er wies nach, dass sich Patientinnen und Patienten nach einem chirurgischen Eingriff unterschiedlich erholten – abhängig von der Fensteraussicht ihres Zimmers. Diejenigen, die in einem Krankenhauszimmer mit Aussicht auf grüne Bäume lagen, benötigten weniger Schmerzmittel, zeigten ein besseres Wohlbefinden und erholten sich schneller als die Kontrollgruppe mit Blick auf eine Hauswand. Diese Studie war initial für die weiterführende architekturpsychologische Forschung und förderte eine evidenzbasierte Designforschung im Gesundheitsbereich.
Warum ist die Wirkung der Architektur auf den Menschen so wichtig? Was macht sie mit dem Nutzer?
Wenn von der Wirkung der Architektur auf den Menschen gesprochen wird, ist zunächst eine reaktive Rolle beschrieben, ein Ausgeliefertsein. Wichtig ist auch die aktive Rolle mitzudenken, das heißt die Aneignung des Raumes, seine Anpassung an eigene Bedürfnisse. Dabei hilft uns Gibsons psychoökologische Theorie der Wahrnehmung: Der Mensch wird durch die Umwelt geprägt, tritt aber auch über aktive Informationsentnahme intentional mit seiner Umwelt in Interaktion und wirkt auf sie ein.
Vor allem in öffentlichen Einrichtungen können die Nutzenden Räume nicht beliebig an ihre Bedürfnisse anpassen. Hier tragen alle, die an der Entscheidung, Gestaltung, Planung und Ausführung beteiligt sind, eine große Verantwortung. Dort ist es besonders sinnvoll, die zur Verfügung stehenden architekturpsychologischen Methoden anzuwenden, um Wirkungen und Nutzungen zu antizipieren. Spätere Anpassungen sind mit wesentlich höheren Investitionskosten verbunden – verglichen mit Interventionen während der Planungsphase.
Das Fach ist vielen noch unbekannt. Warum wird dazu erst jetzt geforscht?
Der Impuls für eine moderne Architekturpsychologie als Forschungszweig und Teildisziplin der Umweltpsychologie kam bereits in den 1960er Jahren – mit der gesellschaftlichen Sensibilisierung für soziale und ethische Themen in den Städten.
Neue Herausforderungen sind heute hinzugekommen – durch die Notwendigkeit lebenszyklusorientierter Planung, durch Flexibilisierung in der Arbeitswelt, Digitalisierung und Vernetzung. „Adaptive Architektur“, das heißt Gebäude, die sich an ihre Umgebung, Objekte und Nutzende anpassen und optimieren lassen beziehungsweise von internen Daten gesteuert werden, entwickelt sich als multidisziplinäres Gebiet. Dies bietet die Chance zu einem produktiven Dialog zwischen den unterschiedlichen Disziplinen Architektur, Stadtplanung, Informatik, Psychologie, Soziologie, Medizin, Ökologie und Ökonomie.
Wieso haben Sie sich für die Promotionsstelle beworben? Was macht Architekturpsychologie für Sie so besonders?
Als diplomierte Bühnenbildnerin habe ich Räume gestaltet – sehr konzentriert und fokussiert auf ein Stück – aber im Rahmen einer „künstlichen“ Inszenierung. Im Psychologiestudium lernte ich die empirische Seite von Raum kennen und weniger die poetische. Mir geht es darum, empirische Forschung, Architekturtheorie und Entwurfspraxis miteinander zu verbinden. Wie steuern Räume, Objekte und visuelle Displays in ihrer spezifischen Präsenz Prozesse und werden zu (Be-)Deutungsgeneratoren in unserem Erleben und Verhalten? Das sind für mich zentrale Forschungsfragen. Ich arbeite daran, Gestaltungswissen interdisziplinär nutzbar zu machen. Meine Promotionsstelle ist am Fachgebiet Architekturtheorie angesiedelt. Sie verbindet in einem transdisziplinären Ansatz hervorragend mein wissenschaftliches und gestalterisches Interesse im Spannungsfeld Raum-, Umweltwirkung und Gestaltung.
Architektur ist ein weites Feld. Auf welcher Gebäudetypologie liegt Ihr Forschungsschwerpunkt?
Zu Beginn meiner Arbeit beschäftige ich mich mit Bildungseinrichtungen und Gesundheitsbauten. Bildung, Gesundheit und Orientierung im Raum sind aus meiner Sicht von zentraler gesellschaftlicher Bedeutung. In der empirischen Bildungsforschung hat die Psychologie einen entscheidenden Beitrag bei der Untersuchung der Qualität von Bildungsprozessen geleistet und die Diskussion um neue didaktische Konzepte vorangebracht. Angesichts der Schulbauoffensive in Berlin scheint dies ein guter Zeitpunkt, Hypothesen zu testen und empirische Studien anzustoßen.
In Gesundheitsbauten wiederum treffen komplexe Organisationsmuster mit enger Verzahnung von Privatem und Arbeitswelt auf ein hohes Maß an Technisierung. Es geht darum, das Personal in seinem Bemühen, um fehler- und schadensfreie medizinische Behandlung optimal zu unterstützen und ebenso die therapeutischen Prozesse für die Patientinnen und Patienten. Liegedauer, Medikamentenverbrauch, Wohlbefinden, Zeitbedarf in der Pflege können durch Architektur beeinflusst werden. Architekturpsychologie kann dazu beitragen, Raum- und Prozessvariablen mit wissenschaftlichen Methoden nutzbar zu machen.
Wie gehen Sie konkret vor?
Ich folge dem Ansatz der evidenzbasierten Designforschung, also der Ausübung der Praxis nach dem aktuellen Stand empirischer Erkenntnisse aus systematischer Forschung. Evidenzbasierte Designforschung folgt einem formalen Prozess. Auf Grundlage der verfügbaren Forschung und Projektanforderungen werden Hypothesen formuliert. Anhand einer zu entwickelnden Matrix kann die Wirkung von Einflussvariablen auf beobachtbare Zielvariablen evaluiert werden. Und dann schauen wir auf die Daten: Vielleicht waren einige Interventionsaspekte erfolgreich – andere nicht. Aus systematisch zusammengetragenen Befunden können dann Gestaltungsempfehlungen abgeleitet werden, die genutzt und an aktuelle Anforderungen angepasst werden können.
Für mich heißt das zunächst umfangreiche Literaturprüfung, Sichtung von Forschungsergebnissen sowie deren Einordnung. Im nächsten Schritt generiere ich Hypothesen und initiiere Kooperationsprojekte mit Architekten.
Welches Ziel verfolgen Sie? Und was planen Sie nach Ihrer Promotion?
Mein zentrales Anliegen ist der produktive Austausch mit unterschiedlichen Disziplinen. Mir geht es darum, zwischen unterschiedlichen (Wissenschafts-)Sprachen zu vermitteln, gemeinsam zu formulieren und idealerweise in praktische, konkrete Architektur umzusetzen.
Sehr gern möchte ich das Thema Architekturpsychologie und evidenzbasierte Designforschung im akademischen Kontext – in Forschung und Lehre – etablieren. Insbesondere die Technische Universität Berlin ist dafür ein ausgezeichneter Ort.
Frau Rauwolf, vielen Dank für das Interview.
Interview mit Prof. Peter Cheret, Stiftungsrat Architektur der Sto-Stiftung, Prof. Dr.-Ing. Jörg H. Gleiter, Leiter des Fachgebiets der Architekturtheorie an der TU Berlin und Diplom-Psychologin Gudrun Rauwolf zur Promotion im Fach Architekturpsychologie an der TU Berlin.