Alexandre Theriot | Bruther | Paris
Der französische Architekt Alexandre Theriot eröffnet seinen Vortrag der Novemberreihe mit einem Zitat des amerikanischen Architekturkritikers Jeffrey Kipnis: „The only revolutionary programme that can be proposed today is a total lack of programme.” Theriot versucht in seinem Vortrag darzulegen, warum sich Raumprogramm und Architektur oftmals gegenseitig im Weg stehen. Die Architektur seines, gemeinsam mit Stéphanie Bru geleiteten Büros Bruther soll vor allem dem Leben und den Nutzern nicht im Weg stehen – und dafür scheint es nötig, Raumprogramme nicht abschließend zu definieren und damit Gestaltungsmöglichkeiten für die Zukunft offen zu lassen.
Das aufstrebende Büro Bruther wurde von Alexandre Theriot und Stéphanie Bru 2007 gegründet. Mehrere gewonnene Wettbewerbe im Kulturbereich sowie jüngst auch einige Direktaufträge, verzeichnet das Portfolio der beiden Pariser Architekten.
Was bedeutet Architektur für den Referenten des letzten Vortrags der diesjährigen Novemberreihe in Stuttgart? Theriot definiert Architektur zunächst nicht über die Funktion, die Struktur oder die Nutzung. Für ihn ist Architektur eine Verheißung; ein Versprechen, was sein könnte. Daher betrachten Bruther Projekte als Teil eines dynamischen Prozesses: Es gibt eine Vorgeschichte, es gibt Entwurf und Umsetzung und es gibt die spätere Nutzung, sowie Umnutzung und Adaptierung. Alle diese Phasen möchte das Büro bei seiner Definition von Architektur im Blick behalten. Das heiße im Umkehrschluss, so Alexandre Theriot, dass Bruther Gebäude nur für eine kurze Zeitspanne begleiten – danach gehe es ohne sie weiter. An einigen Projekten erläutert der Referent, was dies für seine entwerfende Praxis bedeutet.
Sport- und Kulturzentrum in Paris
In einem der dichtesten Quartiere von Paris, Saint-Blaise im 20. Arrondissement, entwickelten Bruther ein Sport- und Kulturzentrum. Die umgebende Wohnbebauung mit typischen Gebäuden der 1980er-Jahre schottet sich mehrheitlich ab – ein lebendiges Stadtleben fehlte. Bruther definierten einen Platz mit Sportflächen und entwarfen einen dreigeschossigen Quader mit leicht konkav nach innen gebogener Fassade. Bodentiefe Verglasungen in den unteren beiden Geschossen ziehen die Umgebung ins Innere. Neben der transparenten Erscheinung ist es vor allem die Fähigkeit des Gebäudes, einen urbanen Kontext zu schaffen, die seinen Erfolg ausmacht. Im Inneren ist wenig vorgegeben. Es finden Workshops und Sportangebote statt – die Grundrisse sind simpel und verständlich, Leitungen laufen offen über die Sichtbetonwände und die Möblierung haben Bruther den Nutzern selbst überlassen.
Wohnhaus in Bordeaux
Das „Super L“ genannte Wohnprojekt in Bordeaux befindet sich im Gewerbegebiet – und in unmittelbarer Nachbarschaft zu mehreren typisch-französischen Riesensupermärkten. Langfristig soll sich das Gesicht des Gebietes wandeln – kostengünstiger Wohnraum ist hierbei ein erster Baustein. Bruther reagierten mit einem aufgeständerten Block, der 150 nahezu identische Wohneinheiten beinhaltet. Die Strategie, ein Wohnhaus wie einen standardisierten Bürobau zu entwickeln, mutet zunächst brutal an. Die sehr einfache und reduzierte Struktur ermöglicht jedoch großzügige Loggien, sowie im Ausbau und für spätere Transformationen ungeahnte Freiheiten.
Forschungszentrum in Caen
In unmittelbarer Nähe der Bibliothek von OMA wurden Bruther – nach gewonnenem Wettbewerb – in Caen beauftragt, ein Kultur- und Forschungszentrum für die junge Generation zu bauen. Idealerweise hatte der beauftragende Verein (noch) keine konkrete Vorstellung darüber, welche Aktivitäten in dem Gebäude stattfinden sollen. So konnte der Bau ganz nutzungsoffen entwickelt werden. Für den Entwurf stand die Idee eines vertikalen Kaufhauses Pate: flexible, offene Flächen und eine transluzente Kuppel als sichtbare Landmarke auf dem Dach. Entstanden ist ein aufgeständerter, viergeschossiger Bau mit multifunktionalen Räumen. Alle Etagen können einzeln erschlossen oder somit auch separat vermietet werden – als Konferenzfläche, Ausstellungsraum, FabLab mit 3D-Druckern und Werkstätten oder als Treffpunkt für temporär dort arbeitende junge Forscher. Die Fassade setzt sich aus vorfabrizierten Elementen zusammen: Folienkissen und große Glasscheiben hängen an einer reduzierten, industriell anmutenden Stahlkonstruktion.
Zum Abschluss unterstreicht Alexandre Theriot noch einmal, dass für Bruther ihre Gebäude mit Schlüsselübergabe nicht fertig sind. Die Architekten wollen den Moment abpassen, an dem sie genug entschieden haben. „Wann müssen wir aufhören, um das Gebäude ausreichend veränderlich und anpassungsfähig zu belassen?“ Dieser Frage versuchen sich Bruther undogmatisch zu nähern. Dem Gebäude und dem Prozess die maximale Freiheit lassen, ist das Ziel ihrer Arbeit – eine Arbeit, die sich sehen lassen kann.
Video-Interview mit Alexandre Theriot
Das Video finden Sie auf dem YouTube-Kanal der Sto-Stiftung